Vielerorts herrscht die irrtümliche Meinung, Musik-Genese brauche keine externen Einflüsse, Musikstile werden aus dem Hier und Jetzt gehoben, oder gar Musik sei gekoppelt an nationale Grenzen. Wo und Wann ist Hier und Jetzt? Wo fängt die Grenze an, wo hört sie auf? Ist die hiesige Volksmusik wirklich die Musik des „deutschen Volkes“? Ist der Gartenzwerg unter der Musik, der Schlager, tatsächlich eine „deutsche“ Musik?
Nationalstaatliches Denken fördert eine solche Meinung. Die falsche Analogie eine Nation – eine Sprache – eine Musik ist als Irreführung abzulehnen.
Musik bedient sich immer vorhandener, bereits dagewesener Elemente, seien es Instrumente, Tonleitern oder Patterns im Arrangement. Nur die Anordnung, Aufeinander-Reihung und Komposition dieser Elemente schafft Neues. Musik ist als Kontinuum zu verstehen, so auch in ihrer Entstehung.
Es waren schließlich Lieder der amerikanischen Natives und böhmische Tänze, die Dvoraks 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ inspirierten und eine eigenständige amerikanische Orchestral-Musik reifen ließen; es waren afrikanische Sklaven aus der Region von Batá in Guinea, die Cumbia nach Lateinamerika brachten; es war mitunter der Einfluss jamaikanischer ImmigrantInnen, die den Hip-Hop im New York der 80er Jahre prägten; es war der Detroit-Techno mit seinen afroamerikanischen Wurzeln, der in Europa verwertet wurde und u. a. Berlin zur Musikmetropole werden ließ.
In der Magisterarbeit eines Berliners wird die Bedeutung dieses Themas hervorgehoben „[…] vielen Clubgängern ist es wahrscheinlich egal, woher und von wem die Musik stammt, zu der sie tanzen. Aber besonders in den sich etwas intensiver mit Techno und seiner Geschichte auseinandersetzenden Technoszenen z. B. in europäischen Großstädten wie Berlin, Amsterdam oder London nimmt Detroit-Techno eine Sonderstellung ein.“[1]
Nun erleben wir also ein Phänomen, welches symptomatisch für die Entwicklung von Musik im interkulturellen Kontext steht. Quer über den Atlantik und über Kontinental-Grenzen hinweg findet die Weiterentwicklung eines Genres und einer ganzen Kultur statt. Aber nicht nur über große Entfernungen ist dies zu finden. Schauen wir nach New York: ein Schmelztiegel aus verschiedensten Kulturkreisen, eine der Musik-kulturellen Metropolen der (westlichen) Welt. New York ist seit den späten 1920er Jahren immer wieder Ausgangspunkt und Zentrum verschiedenster musikalischer Entwicklungen gewesen. Swing, Bebop und Free Jazz, Disco, Punkrock, und New Wave sind mit der Stadt verbunden. Bis heute ist New York die unumstrittene „Hauptstadt“ des Jazz. Darüber hinaus hat die Hip-Hop-Kultur hier ihren Ursprung, die inzwischen zu einem der wichtigsten kulturellen Exportartikel des Landes geworden ist und 2005 zum New Yorker Kulturerbe erklärt wurde. Verantwortlich dafür sind vor allem das Engagement der Zugezogenen, Immigrierten und Integrierten und der inter-kulturelle Austausch.
Dieser findet in allen Kulturzentren dieser Welt statt. Beispielsweise auch in Istanbul. Hier tummelt sich ein reges kulturelles Leben, Stadt zwischen Orient und Okzident, Stadt zwischen Alt und Neu, Stadt zwischen Tradition und Moderne. In einem kleinen Club trifft sich dort monatlich eine Gemeinde der sogenannten Bass-Music, ein Genre aus UK. Mitten unter ihr findet sich als Veranstalter dieser Events ein Gesicht, das sich im piktogrammartigen Abbild seines Kopfes auf der Release[2] eines der renommiertesten Dubstep-Labels (Deep Medi) in ganz Bass-Europa wiederfindet. Bekannt und geschätzt sind seine Releases wegen einer Symbiose aus türkischer Tradition und britischem Bassment. Gantz (sic!) wird gefeiert als Produzent „eines neuen Levels“. Er ist ein Taksim-Urgestein. Seine Beats werden von weniger bekannten Szene-Mitgliedern aus der Gegend auf Türkisch besungen, seine Einflüsse hat er mitunter auch von ihnen, nicht zuletzt aber von türkisch-traditionellen Mustern. Dennoch, vom Typ her ist er durchaus modern und progressiv.
Wie sein Beispiel zeigt, ist es gerade in der heutigen Zeit des Interweb 2.0 wichtiger denn je, den kulturellen Horizont und Musikgenese als offen und unfertig zu verstehen, wie jamaikanische „Riddims“ aus den 70ern, die noch heute entweder neu besungen oder als „Re-edits“ verarbeitet werden. Es sei an Max Romeo und Lee Perrys „Chase the devil“ (auch bekannt als “Out of Space”) erinnert, einer der am meisten neu verarbeiteten Tunes, ein sogenannter Remix-Klassiker (Prodigy, Audio Bullys etc.).
Die weltweite Vernetzung und deren Produkte in Form von moderner Musik legen nur offen, was seit Jahrtausenden Musikgeschichte Alltag ist – Zusammenarbeit fördert Musik, Musik fördert Zusammenarbeit. Und es gilt hier gemeinsam Grenzen zu überwinden. Eben jene mentale Grenzen, die zu geographischen und nationalen Grenzen werden, die für viele ein Bild von wir-und-die, von wir-sind-das-volk-und-ihr-ein-anderes schüren, sind Hindernis für kulturelles und künstlerisches Zusammenwirken. Der Austausch bleibt auf der Strecke und (musik-)kulturelle Weiterentwicklung findet kaum noch statt – auch deshalb klingen Schlager gefühlt seit Jahrzehnten alle gleich. Diese Grenzzwerggartenmentalität ist somit der Antagonist einer offenen Gesellschaft und der Befürwortung eines interkulturellen Miteinanders. Das geht anders, unterwanders! Nicht gegen, sondern Mit-ein-wanders!
Fabz
[1] Daniel Schneider (2013: Kap. 2.3) – siehe http://tiny.cc/schneider
[2] MEDi078: Gantz – Rising / Spry Sinister – [Deep Medi]
https://soundcloud.com/deep-medi-musik/sets/medi078-gantz